Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt, von Steffen Mau, 2024


Buchvorstellung von Holger beim Stammtisch vom 16.7.24

Übersicht:

„Das Buch geht von dem Befund aus, dass sich die ursprüngliche Erwartung einer Angleichung oder Anverwandlung des Ostens an den Westen (…) als Schimäre erweist.“

Fortbestand zweier Teilgesellschaften

Verfestigung der „Unterschiede der Sozialstruktur, Demographie, vor allem Fragen der Demokratie, der Geschichtspolitik und der ostdeutschen Identität“

Lösungsvorschlag: „Wege zu suchen, Menschen in den politischen Prozess zurückzuholen und Partizipationschancen auszuweiten. Kern ist dabei ein Plädoyer für erweiterte Möglichkeiten des basisdemokratischen Mitmachens, wie sie etwa in Bürgerräten erprobt werden.

1. Ossifikation statt Angleichung

Vielzahl von Indikatoren: Ausstattung der Haushalte, Erwerbsquoten, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiographie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Exportorientierung, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Hauptsitze großer Firmen, Produktivität, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, Anteil junger Menschen, Moscheendichte, Lebenserwartung der Männer, Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, Parteimitgliedschaft, Kaufkraft, Wert des Immobilieneigentums, Größe des Niedriglohnsektors, ……. – „Eine Phantomgrenze durchzieht unser Land“

Geprägt durch den Stempel der DDR, die Vereinigungs- und Transformationserfahrung sowie einen dadurch begründeten Entwicklungspfad gekennzeichnet ist

Osten: einfache Arbeitnehmergesellschaft, „ein Land der kleinen Leute“, verlängerte Werkbank

Demographie: Westdeutschland: 60% mehr Einwohner als vor dem 2. Weltkrieg, Ostdeutschland 15% weniger. Männerüberhang durch Abwanderung von Frauen.

„Fremdenfeindliche und rassistische Stimmungen scheinen sich vor allem dort festzusetzen, wo wenige Migrantinnen und Migranten leben und es zugleich einen großen Zuwanderungsbedarf gibt“

„eigenständiger Kultur – und Deutungsraum Ost“: Eindruck des Zu-kurz-Kommens, Ressentiment und Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen, Politik und Medien

2. Ausgebremste Demokratisierung 1989/1990

„weitete sich die Bundesrepublik in der Fläche aus und inkorporierte die DDR, ohne größere Berücksichtigung der dort gewachsenen Strukturen und Mentalitäten“

Zurückdrängen der Runden Tische, Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch westdeutsches Führungspersonal

Die schon in der DDR gängige Elitenkritik übertrug sich auf die neue Führungsschicht, „Die da oben, wir da unten“ blieb als Deutungsmuster erhalten

Für die Demokratie (West) spielen Parteien eine wichtige Rolle. Müssen auf lokaler Ebene verwurzelt sein. Im Osten häufig nicht der Fall, „reine Wahlplattformen“

Die rassistische und rechte Gewalt der Nachwendejahre wurde lange Zeit verharmlost

Kein dichter Kranz an zivilgesellschaftlichen Initiativen, pfadfinderischer Jugendarbeit oder Vereinen, Kirchen

Pulverisierung des alten ideologischen Überbaus, ideelle Orientierungslosigkeit, im Einigungsprozess forcierte Aufwallung nationaler Gefühle  -> Boden für rechte Akteure

Personen mit völkischen und rechtsnationalen Überzeugungen sind zu Funktionsträgern in Einrichtungen wie der Freiwilligen Feuerwehr oder der Handwerkskammer geworden

3. Kein 1968

Es gab im Osten in Bezug auf die DDR kein erinnerungspolitisches Äquivalent zu 1968

Reaktanz auf Belehrungen durch westdeutsche Eliten

Die großen überregionalen Zeitungen aus Frankfurt/Main, München oder Hamburg werden im Osten kaum gelesen

Aufarbeitung muss die Menschen da abholen, wo sie stehen“. „Wir sind immer noch auf der Suche nach angemessenen Verstehensweisen, die die DDR nicht verharmlosen, aber auch in Alltagsdeutungen bestehen können“

4. Ostdeutsche Identität

Westdeutsche verneinen tendenziell die Differenz, auf welcher die Ostdeutschen mehrheitlich beharren

Gerade jüngere Menschen formulieren einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich

5. Politische Konfliktlagen

Die AfD hat in Sachen ostdeutscher Identitätspolitik der PDS bzw. den Linken den Rang abgelaufen

„Anerkennungs-, keine Spaltungskonflikt“: Die Ostdeutschen wollen sich nicht separieren: Sie wünschen gleichberechtigte Teilnahme in ökonomischer, politischer und kultureller Sicht.

Keine Demokratieverdrossenheit, aber „Parteienpolitikverdrossenheit

Bejahung der Demokratie 90%. Funktioniert sie: 40% Zustimmung

Oben- Unten-Deutungsmuster, Bedeutung der „Straße“, lokaler Initiativen, Wählergemeinschaften

Gefahr der weiteren Abkopplung der Städte und Kommunen von der Landes- oder Bundespolitik, da Verantwortungsträger der untersten Ebene wenig Möglichkeiten haben, auf die nächsthöhere Ebene einzuwirken

In solchen Situationen gewinnen dann gut vernetzte oder charismatische Einzelpersonen an Einfluss

Lokalpolitik ist ein wichtiges Einstiegsfenster für radikal rechte Akteure: „Polarisierungsunternehmer

Stadt-Land-Kluft könnte im Osten zu einer zentralen politischen Spaltungslinie werden

Gefühl der Nicht-Einbezogenheit in die Politik, allgemeine Veränderungsmüdigkeit, Gefühl des Kontrollverlustes(nachdem man sich schon einmal umstellen musste) –  besonders Migration wird als kulturelle Irritation wahrgenommen

6. Allmählichkeitsschäden der Demokratie

Recht schwaches Band zwischen Regierenden und Regierten

Sachsen: Misstrauen: gegenüber Parteien 89%, Medien 85%, Kirchen 79%, Gerichten 44%, Wissenschaft 35%

Strategien gegen die AfD: „Wahl zwischen Pest und Cholera“: „Ein allzu hartes Angehen von Partei und Wählerschaft kann deren Gruppenidentität festigen“. „Wo Kleingartennachbarn, Kita-Erzieherinnen, Kegelbrüder, der Bäcker um die Ecke, Mitsängerinnen im Chor oder medizinische Personal einer rechtsextremen Partei zuneigen, ist es schwer, dauerhaft auf Abstand zu gehen“. – „Ein allzu weicher Umgang trägt zur Normalisierung bei und bestärkt womöglich das Selbstbild der Wähler als „besorgte Bürger““.

Strategie der AfD, sich in zivilgesellschaftlichen Strukturen zu engagieren, in Bundeswehr, Polizei, Justiz, Laienrichter oder Schöffen, …. „Demokratien sterben zumeist im Stillen

7. Labor der Partizipation

Das Verschwinden der Unterschiede ist unwahrscheinlich(„Pfadabhängigkeit“). Demokratie wird bejaht, aber das Verständnis demokratischer Verfahren, politischer Partizipation und der Rolle der Parteien ist ein anderes.

Große Vermögensunterschiede -> Besteuerung von Erbschaft und Vermögen

Steigerung des Anteils von Ostdeutschen in Führungspositionen (Problem: „Deutschland ist im internationalen Vergleich eine mobilitätsblockierte Gesellschaft. Ohne aktives Gegensteuern wird sich daran nichts ändern“)

Gefahr der Abwehrkoalitionen gegen die AfD: Unzufriedenheit wird weiter steigen, Parteien berauben sich wichtiger Profilierungsmöglichkeiten. Lösung: Minderheitsregierungen

Immer mehr Landräte oder Bürgermeister sind nicht parteigebunden.

Aufgabe: Gesellschaft enger mit der Politik verbinden und Entscheidungs- und Partizipationsmöglichkeiten jenseits der klassischen Parteien: 

Bürgerräte:

„Eine (etwa über Losverfahren oder eine Beteiligungslotterie) zufällig zusammengesetzte und heterogene Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern (..) soll sich über politische Fragenintensiv austauschen und zu einer gemeinsamen Position finden. -> Richtschnur für politische Entscheidungen, gesetzgeberische Initiativen veranlassen, in Referenden zur Abstimmung stellen. 

Ergänzung der repräsentativen Demokratie, „deliberative Demokratie“. 

„Der basisdemokratische und partizipative Impuls, der in Ostdeutschland nach wie vor vorhanden ist, würde in solchen Aushandlungsformen eventuell ein geeignetes Format finden“. „Ostdeutschland als Vorreiter einer Entwicklung“ ?